synagogenorgel

hans samuel und die orgel in der synagoge am steeler tor – heute haus der jüdischen kultur, essen

betreten wir heute das haus der jüdischen kultur in essen, die alte synagoge, erleben wir einen imposanten raum, in dem menschen klein erscheinen. die hohe kuppel, aber auch die stützenlosen emporen und die großen fenster lassen nicht nur an ein ursymbol des judentums, das stifterzelt, denken, sondern geben den eindruck einer nur vom himmel überspannten weite an die wandernden menschen zurück. vor 100 jahren mag die raumwirkung für die damaligen menschen, die eine stadt im rasanten umbruch kannten, noch stärker gewesen sein.

über dem thoraschrein befand sich damals eine große orgel der firma walcker aus ludwigsburg. sie zählte zu den modernsten orgeln ihrer epoche, walcker war als lieferant höchster qualität und innovativer orgeltechnik weltweit ein begriff.

eine derart große orgel, dem raum aus orgelbaulicher sicht angemessen, mußte in einer synagoge mit liberaler orientierung enorme wirkung entfalten, vergleichbar der großen synagoge in budapest, vor allem aber späterer bauten in den usa. ähnliche synagogen in benachbarten aufstrebenden städten des ruhrgebietes waren, einschließlich der orgelwerke, deutlich kleiner dimensioniert. alle bürger zeigten in essen deutlich, zu was sie imstande waren.

parallel zum synagogenbau erlebten die menschen im herzen des ruhrgebietes den neubau der altkatholischen friedenskirche gegenüber der synagoge, westlich vorgelagert ist das ehrwürdige münster mit jahrhundertelanger tradition weiblicher macht im mittelalter.

förderer aus der industrie waren für bedeutende bauabschnitte verantwortlich, stiftungen und einzelne spenden ermöglichten damals einen großzügigen baustil, und eine entsprechende ausstattung.

hans samuel wächst in diesem klima auf, als jugendlicher hört er die orgel aus der elterlichen wohnung, und eilt so oft als möglich hinzu, um sie zu hören und dann das orgelspiel zu erlernen.1vgl. tina frühauf, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002173 2007

neben dem besuch des katholischen burggymnasiums erhält er orgelunterricht in der evangelischen erlöserkirche. dieser zeitnah fertiggestellte bau im neoromanischen stil besitzt ebenfalls eine große kuppel mit seitenemporen, und über dem altar eine große orgel, ebenfalls aus dem hause walcker.2vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Erl%C3%B6serkirche_%28Essen%29 und fa. walcker

beide großinstrumente gehören zu den imposantesten klangwerkzeugen des ruhrgebietes. ihre wirkung auf die damaligen menschen, die zwar straßenbahnen und wenige automobile, ungeheuerliche industrieanlagen und vielleicht schon telefone im näheren umfeld kannten, muß, ganz dem raumeindruck entsprechend, immens gewesen sein.

der junge rabbinersohn verbringt also seine adoleszenz in einem übersprudelnden umfeld, in dem künstlerische moderne jeder art auf uralte tradition trifft, zuweilen amalgamiert. einzelne urteilen mit bezug auf das judentum in deutschland, es habe eine assimilierung stattgefunden, und ignorieren dabei die entwicklung der haskala seit rabbiner israel jacobson in seesen 18103vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liberales_Judentum und später im israelitischen neuen tempel in hamburg.

zu den modernen entwicklungen in der musik gehören legendäre komponisten wie debussy, mahler und stravinsky ebenso wie die wiederentdeckung historischer musikstile, seit mendelssohn-bartholdy wird die musik von johann sebastian bach wieder geschätzt, mit den zur verfügung stehenden mitteln aufgeführt und neu erforscht. dies gilt insbesonders für die orgelmusik, die in neuen ausgaben erscheint und an die aktuellen klangsituationen angepaßt wird: auf damals neuesten spätromantischen orgeln sollte eine barocke tonsprache realisiert werden, die nach bestem gewissen die musik der vorfahren sei, und so geklungen habe.

heute wissen wir, daß es anders war, nach über einhundert jahren forschung sind erkenntnisse im historisch-informierten wiedergabestil normal, die es damals nicht ansatzweise gab.

allerdings zeigen die dispositionen der walckerorgel in der synagoge und der der schwesterorgel in der erlöserkirche, daß diese instrumente sehr wohl einem klassischen werkaufbau folgten, einen prinzipalchor mit mixturen in allen manualen kennen und aliquotmischungen zeigen, die sog. klassische orgelwerke stilgerecht darstellen konnten. es scheint, daß zumindest bei großbauten eine kenntnis über die traditionen der vorfahren vorhanden war, die aus heutiger sicht erst später „wiedergefunden“ worden sei.

die erhaltenen dispositionen4auskunft von fa. walcker, disposition der erlöserorgel folgt. zeigen aber auch die qualitäten der romantischen errungenschaften im orgelbau: eine sehr große palette an klangfarben, die besonders zur gesangbegleitung geeignet sind, leichteste spielbarkeit ohne mechanische trakturen auch bei höchst virtuoser symphonik, elegante regiermöglichkeiten des gesamten orgelwerkes durch eine einzige person.

für die liturgischen notwendigkeiten verfügte die walckerorgel über eine große menge von sehr charakteristischen grundstimmen, die jede gesangstimme in allen emotionalen situationen perfekt begleiten konnten. dies wird dem kantorialen gesang sehr zugute gekommen sein. es bestehen ähnlichkeiten zu englischen orgeln, die besonders als chororgeln eben für diese begleitung der singenden menschen konstruiert sind. es ist möglich, einen forte singenden chor mit auch strahlendem orgelklang zu umgeben, ohne den gesang, also das eigentliche erklingen der worte, zu übertönen.

genau hier steigt hans samuel als orgellernender, die musik j.s. bachs erforschender und jüdische g’ttesdienstkultur lebenswichtig praktizierender junger mensch ein: er beginnt zu komponieren.

es entstehen etliche liturgische gebundene orgelwerke, die für die gelegenheiten im jahreszyklus gedacht sind, und einen kantor oder einen chor unterstützen. außerdem entstehen freie orgelwerke, die als kompositorische großform nur für das instrument gedacht sind. eine dezidiert polyphone tonsprache, die sehr an bach erinnert und wenig an levandowski, erscheint zu einem zeitpunkt, zu dem die wiederentdeckung der cembalokunst der barockepoche durch u.a. wanda landowska in paris ein allerneuestes thema ist, die sogenannte orgelbewegung ist in vollem gange.5vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/organ_reform_movement

das konzertprojekt heißt unter beachtung der weiteren, an anderer stelle ausführlich geschilderten vita des hans samuel: „essen | berlin | jaffa – der komponist hans samuel“. nach der flucht in das britische mandatsgebiet setzt samuel seine tätigkeit in jaffa und umgebung fort. 1947 entsteht hier die „sephardic cantata“, eine folge liturgischer musiken zum schabbat, eingebettet in lesungen und gebete eines liberalen ritus. die bezeichnung „sephardisch“ geht auf melodien zurück, die samuel von niederländischen flüchtlingen kennenlernte, und die ihn faszinierten.6tina frühauf: orgel und orgelmusik in deutsch-jüdischer kultur, olms verlag 2007 (dissertation) im ruhrgebiet waren sie bis dahin unbekannt. die komposition ist sehr offen gestaltet und bietet eine vielzahl von besetzungsmöglichkeiten, es existieren hinweise auf vermutlich lokal vorhandene instrumentalisten und ihre möglichkeiten. immer jedoch ist dem notentext hinzugefügt: „oder orgelstimmen“. samuel hatte zwar zugang auch zu größeren orgeln, es ist jedoch erst nach der genauen analyse und nach zahlreichen proben im ensemble shtetl sichtbar, wie sehr samuel als selber spielender an einen großen orgelspieltisch dachte und für so ein einzelinstrument komponierte.

die notierte partitur enthält in mehreren gleichzeitig notierten ebenen verschiedene möglichkeiten einer aufführung. das ensemble shtetl hat diese kompaktierte partitur entzerrt und eine fassung erarbeitet, die die sehr komplexe tonsprache samuels gut durchhörbar erklingen läßt.

frau M.A. martina strehlen sei auch an dieser stelle nochmals gedankt. die verortung der notenkopien ins haus der jüdischen kultur erfolgte in den 1980er jahren durch Dr. edna brocke. ein einzelnes orgelwerk wurde in den frühen 1990er jahren zu einer besonderen gelegenheit aufgeführt.7auskunft M.A. strehlen, haus der jüdischen kultur, essen

es sollen aufnahmen von hans samuel auf der walckerorgel der villa berg in stuttgart existieren.8vgl. https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.vandalismus-in-villa-berg-beruehmte-orgel-beschaedigt.a64df615-ff53-4486-acc6-79cde0415a11.html nach derzeitigem kenntnisstand sollten diese tonbänder im staatlichen israelischen rundfunk lagern. es bestehen hierzu kontakte zum musical department der universität von tel aviv.

es ist bislang nicht bekannt, daß die „sephardic cantata“ jemals aufgeführt worden wäre. sollte kenntnis von einer liturgischen verwendung in israel eintreten, wäre auch dies allein schon sensationell. solange müssen wir davon ausgehen, daß die essener aufführung im rahmen der jüdischen kulturtage rhein-ruhr eine welturaufführung ist.

zusammenfassung:

hans samuel ist als jüdischer organist und komponist im ruhrgebiet ein solitär.

er lernte an einer der größten und modernsten orgeln seiner zeit und erhielt orgelunterricht an der evangelischen erlöserkirche, war schüler des katholischen burggymnasiums.

für den liberalen g’ttesdienst komponierte er zahlreiche liturgische musiken, auch später in israel für sehr variable instrumental-besetzungen und gemischten chor.

er legte persönlich beschwerde gegen seinen auschluß aus der „reichsmusikkammer“ ein.9tina frühauf, a.a.o.

seine komposition der „sephardischen cantate“ verbindet in damals einzigartiger weise inhalte der westlichen jüdischen musik mit neuer musik, die auf der polyphonie bachs basiert. die innewohnenden zahlenproportionen sind jedoch eher an der kabbala angelehnt, als an christlichen systemen.

samuel löste für einige jahre eine orgelbegeisterung im nahen osten aus.10tina frühauf, a.a.o.

die erlöserkirche in essen ist maßgeblich an samuels ausbildung beteiligt gewesen und besitzt eine ähnliche architektur, orgelsituation (oberhalb des schreins/altars) und eine sehr ähnliche akustik.

es bestehen einschlägige und ständig erneuterte kontakte zum musical department der universität von jaffa und zur orgelbaufirma walcker.

höchstwahrscheinlich ist die aufführung der „sephardic cantata“ eine uraufführung.

2019 markus emanuel zaja

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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